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Zur Todesstrafe in den USA

DEAD MAN WALKING

Jake Heggies Oper »Dead Man Walking« erzählt die Geschichte von Sister Helen, die den zum Tode verurteilten Mörder Joseph de Rocher auf seinem letzten Weg begleitet. Um das amerikanische Rechtssystem und die Frage, warum die Vereinigten Staaten immer noch die Todesstrafe verhängen und ausführen, besser zu verstehen, hat Dramaturgin Anna Neudert sich mit dem amerikanischen Anwalt Gilbert Miller unterhalten.

 

AN: Gilbert, Sie arbeiten als Anwalt für den Bundesstaat New Jersey und vertreten als Pflichtverteidiger auch Mörder*innen vor Gericht. Wie denken Sie über Gut und Böse? Gibt es böse Menschen oder steckt in jedem*r von uns etwas Gutes?

GM: Ich denke, dass alle Menschen gut geboren werden. Jeder Mensch möchte von sich selbst glauben, dass er den weißen Hut trägt. Menschen, die Straftaten begehen, haben meist das Gefühl, dass diese Tat irgendwie dadurch gerechtfertigt wird, dass sie eine schwere Kindheit hatten oder von der Gesellschaft oder dem Leben ungerecht behandelt wurden. Darin liegt für mich das Böse. Das Böse bedeutet, dass man sich berechtigt fühlt, schlechte Dinge zu tun und sich des Fehlverhaltens in dem Moment bewusst ist. Menschen werden nicht böse geboren, aber Menschen handeln böse. Und ich habe Menschen erlebt, die große Freude daran hatten, böse zu sein. Ob es »das Böse« gibt? Ich weiß es nicht.

Gerade vertrete ich übrigens tatsächlich jemanden, der wegen Mordes verurteilt wurde. Morde passieren, die wenigsten Morde sind geplant oder werden von Serienmördern begangen. Dinge passieren, manchmal sind Alkohol und Drogen im Spiel, und jemand stirbt dabei, so ist das meistens.

AN: Haben Sie jemals jemanden vertreten, der zum Tode verurteilt wurde?

GM: Nein, New Jersey hat die Todesstrafe schon vor längerer Zeit abgeschafft. Ich finde es falsch, dass der Staat tötet und ich empfinde die Todesstrafe als kontraproduktiv und wirkungslos. Die Todesstrafe hält Menschen nicht davon ab, Verbrechen zu begehen. Ich habe durchaus auch Kolleg*innen, die die Todesstrafe befürworten. Aber ich will auch die Frage in den Raum werfen: Ist es wirklich so viel menschlicher, jemanden für den Rest seines Lebens in eine Zelle zu stecken, ohne Sex, ohne Liebe, ohne die Aussicht, jemals wieder frei zu sein? Ich denke, das ist auch schrecklich und barbarisch.

Aber Menschen erachten das als humanistisch … Viele der Gefangen, die den Rest ihres Lebens im Gefängnis verbringen müssen, versuchen ständig herauszufinden, wie sie sich das Leben nehmen können. Ist also das eine schrecklicher als das andere? Jedes System der Bestrafung hat etwas Brutales. Ein gewisses Maß an Grausamkeit ist vielleicht erforderlich, sonst gerät die Gesellschaft völlig außer Kontrolle. Ich persönlich glaube aus moralischen und praktischen Gründen nicht an die Todesstrafe. Bevor Ronald Reagan 1981 die Präsidentschaft übernahm befürworteten nur rund 40% der Amerikaner*innen die Todesstrafe, plötzlich waren es 80 %. Was war passiert? Viele Vietnam-Veteranen kamen zurück, die Kriminalität stieg sprunghaft an, es geschahen viele Morde. Für Mord bekam man lebenslänglich. Aber Menschen wurden paranoid, forderten höhere, härtere Strafen und die Zustimmung zur Todesstrafe stieg auf das Doppelte.

Aktuell befürworten circa die Hälfte der Amerikaner*innen die Todesstrafe. Die Zustimmung sinkt seit Jahren kontinuierlich. Organisationen wie etwa Innocence Project bemühen sich um die Aufklärung von Justizirrtümern und konnten schlüssig nachweisen, dass Menschen unschuldig in der Todeszelle sitzen; sie gehen außerdem davon aus, dass unschuldige Menschen hingerichtet wurden. Das schlug hohe Wellen in der Öffentlichkeit.

AN: Wird Amerika die Todesstrafe in naher Zukunft vollständig abschaffen?

GM: Nein, denn das eine Amerika gibt es nicht. Wir sind ein Nebeneinander vieler unterschiedlicher Kulturen. Schauen wir in den Süden: Kleine Mädchen bekommen ein Gewehr zu ihrem achten Geburtstag, wollen mit Papa auf die Jagd, gehen raus und killen Bambi. Ich bin ein Yankee (Nordstaatler), ich hatte einmal in meinem Leben eine Waffe in der Hand. Wenn man in New Jersey mit einer Waffe erwischt wird und keine Lizenz dafür hat, drohen dir fünf Jahre Gefängnis. Im Süden kannst du Waffen im Walmart kaufen. Wir sind wirklich sehr verschieden. Amerika ist lediglich durch einen historischen Mythos und eine Verfassung vereint. Die Todesstrafe hat in Amerika Geschichte und daher wird sie niemals als verfassungswidrig gelten. In den 1960er Jahren wurde die Methode der Durchführung als verfassungswidrig angesehen, aber das wurde korrigiert. Nun gibt es – in der Theorie – eine rationale Abwägung der Faktoren. Für mich ist das völliger Blödsinn, weil die Faktoren sehr allgemein sind. In der Realität ist die Wahrscheinlichkeit, dass Sie zum Tode verurteilt werden, wenn Sie als Schwarzer Mann einen Weißen Mann oder eine Weiße Frau töten, sehr viel höher, als wenn Sie als Weißer Mann einen Schwarzen Mann töten.

AN: Obwohl Amerika so viele Gesichter hat, hat man doch den Eindruck, wenn man so wie ich, als Europäerin drauf schaut, dass die amerikanische Kultur eine Kultur ist, die sehr zweigeteilt funktioniert. Etwas ist richtig oder falsch, gut oder böse oder eben demokratisch oder republikanisch, wenn man ganz aktuell auf die bevorstehende Wahl schaut. Ist diese Beobachtung richtig?

GM: Das ist eine gute Kritik. Manichäismus ist der Ausdruck für diese sehr vereinfachte Dichotomie in Gut und Böse. Natürlich ist die Realität viel komplizierter, aber das ist menschlich. Menschen mögen es, Gangster und Bösewichte genau zu identifizieren, aber wir Amerikaner*innen sind extrem, das stimmt.

AN: Wie sehr hat Ihre jahrelange Arbeit als Anwalt und Pflichtverteidiger Sie verändert? Sie haben mir schreckliche Dinge erzählt, im Laufe des Gesprächs. (Anmerkung: Gilbert beschrieb mir die Taten seiner Klient*innen teilweise sehr genau, in all ihren grausamen Details, auf die ich hier nicht genauer eingehen werde.)

GM: Mittlerweile hat das keine emotionale Wirkung mehr auf mich. Ein* Chirurg*in darf auch nicht dauernd darüber nachdenken, was er*sie da tut; das sind Jobs, die getan werden müssen. Aber ich muss zugeben, das war nicht immer so. In meinem ersten Fall als Staatsanwalt hatte ich es mit einem Auftragskiller der schwarzen Mafia in Newark, New Jersey zu tun, der wegen dreifachen Mordes angeklagt war und für jeden dieser Morde zu jeweils lebenslanger Haft verurteilt wurde. Er wird nie wieder frei sein. Ich habe gewonnen. Und die Leute kamen auf mich zu, klopften mir auf die Schulter und ich dachte nur: »Oh mein Gott, ich bin dafür verantwortlich, dass ein Mensch für den Rest seines Lebens im Gefängnis sein wird.« Beim nächsten Mal hatte ich diese Gefühle nicht mehr. Es ist ein Job. Es gibt immer wieder mal Fälle, die mich mehr berühren. Und nach all den Jahren merke ich doch, dass ich eine sehr zynische Sicht auf die Menschheit bekommen habe.

 

DEAD MAN WALKING
Oper in zwei Akten von Jake Heggie

Libretto von Terrence McNally
Nach dem
Buch von Sister Helen Prejean 

PREMIERE: FREITAG, 17. MAI 2024, GROSSES HAUS

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